Sie ist nicht nur die Godmother of Punk, sie ist auch Nina Nationale – ein gesamtdeutsches Kunstwerk sozusagen. Am 11. März 2015 feierte Deutschlands verdienstvollste Popkünstlerin ihren 60. Geburtstag. Warum ist sie als Künstlerin eigentlich so wichtig?
Text: Ernst Hofacker
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Auch wenn man nicht wissen konnte, dass aus ihr eine Ikone der internationalen Popkultur werden sollte – als Nina Hagen 1974 ihren ersten und einzigen DDR-Hit „Du hast den Farbfilm vergessen“ im dortigen Fernsehen präsentierte, konnte jeder, der die 19-Jährige sah, unschwer erkennen: Die passt nicht. Nicht in die biedere kleine Kulissenwelt des TV-Studios; nicht in das enge Korsett des zwischen Dixiejazz und Schlager changierenden Gewandes, in das dieses Lied gekleidet war; und schon gar nicht in die Entertainment-Schablonen eines Staates, der seine Unterhaltungsbranche strikt in den Dienst der sozialistischen Ideologie stellte. Wer Gestus, Mimik und rotzfrechen Augenaufschlag dieses Mädchens betrachtete, der ahnte: Nina ist Lolita, Freigeist und Rumpelstilzchen in Personalunion. Ein Unikat, das sich weder instrumentalisieren noch sonstwie domestizieren lässt. Unfassbar, unberechenbar, unkontrollierbar.
Mit der DDR-Karriere konnte es denn auch nicht lange gutgehen. Schon 1975 deutete sich das an: Öffentlich protestiert die 20-Jährige damals gegen die Ausbürgerung ihres Mentors Wolf Biermann, seines Zeichens ihr Ziehvater und der Ex-Lebensgefährte ihrer Mutter Eva-Maria Hagen. Die DDR-Kulturoberen zögern nicht lange und bürgern auch Eva-Maria und Nina Hagen 1977 aus. Nina, die nun endlich grenzenlose Erfahrungen machen kann, geht nach London und taucht für einige Monate in die dortige Punkszene ein. Im Herbst 1977 bereits ist sie zurück in der BRD. Sie geht nach Westberlin und gründet mit Herwig Mitteregger, Bruno Potschka, Manne Praeker und Reinhold Heil die Nina Hagen Band.
Beginn einer Weltkarriere
In den Hansa Studios entsteht nun eines der provokantesten Alben der deutschen Popgeschichte. Als „Nina Hagen Band“ 1978 erscheint, sorgt es für reichliche Kontroversen und entpuppt sich bald als einer der wichtigsten Impulse für die folgende Neue Deutsche Welle. Die Musik pendelt zwischen Hardrock, Reggae und Punk, Hagens Wortwahl in den Lyrics fällt stellenweise drastisch aus, und ihre schrille Gesangsperformance schließt selbst Ausflüge ins Opernfach ein. So etwas hat die Republik noch nicht gehört. Obendrein ist diese junge Frau nicht nur schrill, sie kann auch besser singen als praktisch die gesamte Konkurrenz.
1979, noch bevor das erfolgreiche zweite Album „Unbehagen“ auf den Markt kommt, trennt sich Hagen von ihrer Band, die wenig später unter dem Namen Spliff berühmt wird, und macht sich solo auf den Weg in die 1980er-Jahre.
Los Angeles, Paris und Indien heißen die nächsten Stationen, und immer häufiger taucht die Sängerin nun auch in den einschlägigen Klatschspalten auf. Dort nimmt man ihre Liebschaften, darunter die mit einem 17-jährigen Londoner Punk, indigniert zur Kenntnis und arbeitet sich ansonsten mit erhobenem Zeigefinger an ihren öffentlichen Auftritten ab. Die freilich fallen ebenso exzentrisch wie provokativ aus, berühmtestes Beispiel bleibt ihre Masturbationsdemonstration in der österreichischen Talkshow „Club 2“.
Mal Betty Boop, mal Godzilla
Künstlerisch verfolgt die Hagen seitdem einen Zickzack-Kurs, der Ausflüge in die Avantgarde ebenso vorsieht wie den Flirt mit Disco und Pop, in jedem Fall aber unvorhersehbar bleibt. Immer wieder geraten ihre Alben zu künstlerischen Protokollen einer notorischen Freidenkerin, im Lauf der Zeit arbeitet sie mit so unterschiedlichen Leuten wie Giorgio Moroder, den Red Hot Chili Peppers, Dave Stewart, Max Raabe und Africa Bambaataa.
Die Berliner Republik der 2000er-Jahre hat Nina Hagen längst als nationales Heiligtum in die Arme geschlossen. Ein Enfant terrible by nature, „mal Betty Boop, im nächsten Augenblick Godzilla“, wie ein US-Journalist treffend formuliert. Bis heute zieht die ebenso exzentrische wie genialische Chanteuse immer wieder Überraschendes aus dem Ärmel. Etwa das Swingalbum „Big Band Explosion“ von 2003, auf dem sie ehrwürdige Standards von Howard Arlen und George Gershwin gewohnt respektlos durch die Mangel dreht. Oder „Personal Jesus“ (2010), auf dem sie sich mit dem Thema Soul & Gospel befasst – auch dabei ist ihr, wie könnte es anders sein, wenig heilig.
Und was den vergessenen Farbfilm betrifft: Das hat sie dann gleich selbst in Ordnung gebracht und bis heute jede Menge Farbe in die Poplandschaft gemalt.
HÖRTIPPS
Nina Hagens Kreativität ist auf folgenden Alben besonders eindrucksvoll zu erleben:
Was denn… – Hits ’74 – ’95
Die Compilation mit dem provokanten Titel richtet ein besonderes Augenmerk auf das Frühwerk der Nina Hagen – von „Du hast den Farbfilm vergessen“ über „TV Glotzer“ bis hin zu „Ich bin da gar nicht pingelig“.
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Unbehagen
Die Nina Hagen Band holt zum zweiten Streich aus. Mit von der Partie: Das Lene-Lovich-Cover „Wir leben immer … noch (Lucky Number)“, „African Reggae“ und „Herrmann hieß er“.
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Original Album Classics
Dieser Schuber vereint die drei Hagen-Originalalben „Nina Hagen Band“ (1978), „Nunsexmonkrock“ (1982) und „Fearless“ (1985) – die englische Version des ein Jahr zuvor erschienenen „Angstlos“-Albums.
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Live At Rockpalast
Nina Hagen schaffte es mit der Auswahl zweier ihrer legendären Konzerte in die auserlesene Rockpalast-Reihe des Kultur Spiegels. Randnotiz: Der einzige Song, der dabei sowohl in der Westfalenhalle Dortmund 1978 als auch 11 Jahre später in der Rheinaue zu Bonn zu hören war, ist „TV Glotzer“.
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